Mittwoch, 25. Mai 2005

Der »neue Irak«

Wahlen, Militäroffensiven und Todesschwadrone –
Herrschaftsstrategien der USA in dem besetzten Land (Teil I)

Von Joachim Guilliard

Ein »dreifaches Hoch auf die Bush-Doktrin« schrieb der Pulitzerpreisträger Charles Krauthammer Anfang März im Time Magazine. Die erfolgreiche Abhaltung der Januar-Wahlen im Irak sei der endgültige Beweis für die Richtigkeit der Entscheidung, in den Irak einzumarschieren. Auch viele Kritiker hätten eingesehen, daß es richtig gewesen sei, militärische Macht zur Durchsetzung demokratischer Ideale einzusetzen und dadurch eine Transformation der arabischen Welt in Gang zu setzen – von endloser Tyrannei und Intoleranz hin zu anständiger Staatsführung und Demokratisierung. Mit den »historisch einmaligen« Wahlen in Afghanistan und Irak, der freien Wahl einer »moderaten« palästinensischen Führung und der »Zedern-Revolution« im Libanon sei die US-Administration mit ihrem »großen Projekt« einer »pan-arabischen Reformation« vorangeschritten, einem »gefährlichen, riskanten und, ja, arroganten aber notwendigen Versuch, die Kultur des Mittleren Osten als solche« zu ändern, um »die Türen zu Demokratie und Moderne zu öffnen.« Die Wahlen im Irak seien möglich geworden, weil die USA nach »dem Schwert«, das das alte Regime stürzte nun den »Schild bereitstellten, der acht Millionen Irakern die erste Ausübung von Selbstregierung« ermöglichte.1

»Geölte« Besatzung

Die Ausführungen des neokonservativen Kolumnisten der Washington Post Krauthammer sind typisch dafür, wie offizielle US-amerikanische Stellen und ihre Verbündeten die im Januar durchgeführten Wahlen zur Rechtfertigung ihrer Politik benutzen.2 Obwohl diese Wahlen ganz offensichtlich demokratischen Standards nicht genügten, wurden sie auch von den Regierungen Deutschlands und anderer eher »kriegskritischer« europäischer Länder anerkannt.

Selbst eine Reihe namhafter Kritiker der US-Politik und erklärter Besat-zungsgegner wie z.B. Noam Chomsky begrüßten – trotz Kritik im Detail – die Wahlen grundsätzlich als Sieg über die Gewalt und als wichtigen Schritt in Richtung Souveränität und Demokratie.

Das ist eine Illusion, wie ein genauerer Blick auf den Charakter der Wahlen und auf den sogenannten »Übergangsprozeß« – d.h. die von den USA konzipierte Reorganisation des irakischen Staates – zeigt. Das Land bleibt weiterhin unter vollständiger Kontrolle der Besatzungsmacht und steht seit der Installation der ersten Interimsregierung ununterbrochen unter Kriegsrecht. Die Wahlen liefern nun den Vorwand, um einen schmutzigen Krieg gegen all die zu intensivieren, die sich den US-Plänen entgegenstellen. Es waren Wahlen, um die »Besatzung zu ölen«, so Salim Lone, ein ehemaliger hoher UN-Mitarbeiter im Irak, nicht, um sie zu beenden.

Der Urnengang zu einem – aus Sicht der USA – so frühen Zeitpunkt war zunächst ein Zugeständnis der Besatzungsmacht an die Besatzungsgegner. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb Noam Chomsky die Wahlen positiv wertet. Washington stimmte zu, um zu verhindern, daß angesichts des wachsenden militärischen Widerstandes nicht auch noch die bis dahin passiven Gegner in die offene Rebellion getrieben werden.

Die US-Administration sicherte sich die volle Kontrolle über den gesamten Prozeß. Nicht nur die Wahlen, auch die Grundlagen, auf der die neu gewählten Institutionen arbeiten sollen, wurden von der Besatzungsmacht vorgegeben. In mehr als einhundert Verordnungen, die der einstige Statthalter Paul Bremer vor der Übergabe der formalen Regierungsgewalt an die erste Interimsregierung erlassen hatte, sind die wesentlichen Bereiche in Staat und Wirtschaft bereits fest im Sinne der USA geregelt (siehe hierzu J. Guilliard, »Wahlen als Waffe im Krieg – Ein Überblick über den Wahlprozeß im Irak,
http://www.embargos.de/irak/occupation/hintergrund/wahlen_waffe_jg.htm).

Wochenlanges Postengeschacher

US-Juristen hatten im wesentlichen auch die provisorische Verfassung entworfen. Hier wurde eine Zweidrittelmehrheit für die Wahl der Übergangsregierung und eine Dreiviertelmehrheit für Änderungen an der Verfassung oder Bremers Erlassen festgelegt. Zudem ist stets auch die einstimmige Zustimmung des dreiköpfigen Präsidentenrates nötig. Insgesamt war damit schon sichergestellt, daß das Parlament selbst bei ungünstigem Wahlausgang, den von der Besatzungsmacht vorgegeben Weg nicht verlassen kann.

Das Wahldesign tat sein übriges. Da die Spitzenpositionen aller wichtigen Wahllisten mit Vertretern der verbündeten Organisationen besetzt waren, sitzen nun auch mehrheitlich dieselben Leute in der neuen Regierung, die schon den provisorischen Vorgängerregierungen angehörten. Die meisten von ihnen hatten die Jahrzehnte davor im Ausland verbracht und sind erst mit den Besatzungstruppen in den Irak zurückgekehrt.

Dennoch dauerte der Kampf um Einfluß und Pfründe fast drei Monate, bis sich die Wahlsieger am 28. April endlich auf ein (unvollständiges) neues Kabinett einigen konnten. Neben den Forderungen der kurdischen Parteien nach einem raschen Anschluß der ölreichen Region um Kirkuk an die von ihnen beherrschten Nordprovinzen ging der Streit vor allem um die Kontrolle und die Zusammensetzung der neuen Sicherheitsapparate, die im Laufe des letzten Jahres unter Führung des bisherigen Regierungschefs Iyad Allawi aufgebaut worden waren, unter Einbeziehung einer großen Zahl kollaborationswilliger Angehöriger aus den Sicherheitsdiensten des alten Regimes. Allawi, der engste Verbündete der US-Regierung, forderte für seine Liste daher u. a. das Innenministerium. Die führenden Partien auf der schiitischen Liste, die die Mehrheit der Stimmen erhielt, SCIRI und Dawa, haben allerdings kein Interesse daran, daß sich säkulare, ehemals baathistische Kräfte einen eigenen Machtapparat aufbauen. Sie wollten das Innenressort daher selbst übernehmen und kündigten zunächst auch an, die Ministerien und Sicherheitsdienste von allen zu säubern, die führende Positionen in der Baath-Partei oder im alten Staat innehatten.

Dies zwang die US-Regierung, massiver in die Verhandlungen einzugreifen. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld flog Anfang April persönlich nach Bagdad und machte klar, daß die irakischen Sicherheitskräfte für die neue Regierung tabu sind. Die einstigen Mitglieder von Saddam Husseins geheimer Polizei seien die »kompetentesten« Kräfte, um den Widerstand zur Strecke zu bringen.

Schließlich einigten sich die US-Verbündeten auf Jalal Talabani, Chef der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), als Staatspräsidenten. Seine Stellvertreter wurden Adel Abdel Mahdi vom SCIRI und der bisherige Präsident Ghazi al Yawer, ein reicher und einflußreicher sunnitischer Stammesführer.

Zum neuen Regierungschef wurde Dawa-Chef Ibrahim Jaafari bestimmt, der aus Sicht Washingtons akzeptabelste Kandidat aus der schiitischen UIA-Liste. Jaafari gilt als moderater Schiit und enger Verbündeter der USA. Er steht im Gegensatz zu den SCIRI-Führern auch nicht im Verdacht enger Verbindungen zum Iran. »Er ist unser Junge, nicht der des Iran«, verlautete es aus dem Weißen Haus.

Das neue Kabinett

Das Ausscheiden Allawis ist die einzige Überraschung bei dieser neuen Regierung. Er wird dennoch der wichtigste Mann Washingtons beim Aufbau irakischer Kapazitäten zur Aufstandsbekämpfung bleiben und aufgrund persönlicher Loyalitäten die Kontrolle über die neuen »Sicherheitskräfte« behalten. Für Kontinuität war ohnehin gesorgt. In allen Ministerien bleiben die vom ehemaligen Statthalter Bremer eingesetzten US-amerikanischen »Berater« im Amt und sorgen dafür, daß keines vom rechten Weg abkommt.

Mit dem kurdischen Warlord Jalal Talabani gelangte einer der wendigsten irakischen Politiker an die nominelle Spitze des Staates, mit einer langen Geschichte zwielichtiger Bündnisse mit jedem, der ihm gerade nützlich schien. »Er hat so oft die Seiten gewechselt, daß es sehr ermüdend für mich wäre, jede Wendung aufzuzählen«, charakterisierte ihn Dilip Hiro in einem Interview. In den westlichen Medien wird Talabani gerne als »entschiedener Saddam-Gegner« und als großer Demokrat gefeiert. Auch dieses Bild trügt. Er herrscht als Warlord genauso autokratisch über seinen Teil des Autonomiegebietes wie sein kurdischer Rivale, KDP-Chef Mahssud Barzani. Wie dieser ging er auch mit Saddam Hussein immer wieder Bündnisse ein. Die letzten Bilder, auf denen zu sehen ist, wie Talabani und Hussein einander herzen, stammen vom Juni 1991.3

Die wichtigste Rolle dürfte für Washington aber Talabanis Stellvertreter Adel Abdel Mahdi (SCIRI) zukommen. Der einstige Maoist, der sich zum freien Marktwirtschaftler im radikalislamischen Gewand wandelte, war bisher provisorischer Finanzminister gewesen. Er hatte die von Paul Bremer verordnete Schocktherapie durchgeführt, die die irakische Wirtschaft völlig deregulierte und dem ausländischen Kapital öffnete. Mahdi gilt als der Mann, der die Fortsetzung von Bremers Arbeit garantieren soll.4 Als Vizepräsident kann er im Bedarfsfall jede Änderung an den Verordnungen der Besatzungsbehörde mit seinem Veto blockieren.

Zur Seite wurde ihm Ali Abdel Amir Allawi als Finanzminister gestellt, Chef einer erfolgreichen Londoner Investmentfirma und Berater der Weltbank. Sein Vater war während der Monarchie Gesundheitsminister gewesen. Ali Allawi, der mütterlicherseits ein Neffe Ahmed Chalabis und väterlicherseits ein Cousin von Iyad Allawi ist, hatte den Irak 1956 als Neunjähriger verlassen.

Rückkehr Chalabis

Alarmierend für Iraker ist die Rückkehr des scheinbar unverwüstlichen Ahmed Chalabi. Dem in Jordanien wegen Millionenbetrugs verurteilten Chef des Irakischen Nationalkongresses wurde neben dem Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten zunächst auch kommissarisch das Ölministerium übergeben, bevor es seinem Vertrauten Ibrahim Bahr al-Uloum zugeschlagen wurde. Überall, wo Chalabi und seine Leute mit größeren Geldsummen in Berührung kamen, verschwand ein guter Teil davon auf mysteriöse Weise. Es ist davon auszugehen, daß das gesamte lukrative Ministerium bald von seinen Anhängern durchsetzt sein wird. Obwohl der einstige Pentagonliebling aufgrund seiner zwielichten Machenschaften und mutmaßlichen Verbindungen zum iranischen Geheimdienst in Ungnade gefallen war, wird dennoch vermutet, daß die US-Administration bei der Besetzung des Ölministeriums die Hand im Spiel hatte – Widerstände gegen Privatisierungsmaßnahmen sind von Chalabis Seite nicht zu erwarten.

Auch die Ernennung von Baqir Jabr zum Innenminister verheißt wenig Gutes. Sein eigentlicher Name ist Bayan Sulag – Baqir Jabr ist sein Kriegsname, den er als führendes Mitglied der Badr-Brigaden, dem bewaffneten Arm des SCIRI, erhielt.

Einen Einblick in seine früheren Aktivitäten gibt ein Bericht von Radio Free Europe vom Mai 2000 über einen Raketenangriff auf einen der Regierungspaläste in Bagdad. In einem Interview übernahm Jabr im Namen von SCIRI die Verantwortung für den Anschlag, der mehrere Opfer unter den Angestellten gefordert hatte.

Die Badr-Brigaden wurden im Iran ausgebildet, die meisten der z. T. sehr jungen Milizionäre sind auch dort aufgewachsen und Anhänger der Ideen Ayatollah Khomeinis. Sie führten in den 1990er Jahren eine ganze Reihe von Anschlägen im Irak aus, denen auch eine größere Zahl von Zivilisten zum Opfer fiel. Sie stehen im Verdacht, mit Beginn der Besatzung Todesschwadrone aufgebaut und eine große Zahl ehemaliger Baath-Mitglieder und Funktionäre sowie sonstige politische Gegner ermordet zu haben.

Der SCIRI und die Badr-Brigaden haben sich bisher wie die beiden Kurdenparteien einer Auflösung ihrer Milizen widersetzt. Sie sprechen sich dafür aus, ihre Truppen verstärkt zur Bekämpfung des Widerstands einzusetzen, wodurch der Krieg tatsächlich zunehmend bürgerkriegsähnliche Züge annehmen würde.

PUK und KDP verfügen über je 15 000 Vollzeitkämpfer in quasi regulären Armee-einheiten und weiteren 20 000 bis 25 000 Stammesmilizionäre, insgesamt also über 75 000 Mann.5 Sie stellen damit nach den US-Truppen die mit Abstand größte Streitmacht im Irak. Die Badr-Brigaden werden auf eine Stärke von bis zu 15 000 Mann geschätzt, die ebenfalls gut ausgebildet sind. Auch Dawa und Chalabi sowie weitere US-Verbündete unterhalten eigene Milizen. »Diese Leute bedrohen uns mit einem Warlord-System, daß unser ganzes Land zerstören könnte«, so Wamidh Nadhmi, Sprecher des Irakischen Nationalen Grün-dungskongresses.

Auch die Aufteilung nach ethnisch/konfessionellen Kriterien führt zu heftigen Protesten, auch innerhalb der Nationalversammlung. Hashim Abdul-Rahman al-Shibli, der als »Minister für Menschenrechte« nominiert worden war, um die Zahl der Sunniten im Kabinett zu erhöhen, weigerte sich, auf dieser Basis in die Regierung einzutreten: »die Konzentration auf konfessionelle Identitäten«, führe »zu Spaltungen in Gesellschaft und Staat«.

1 Charles Krauthammer »Three Cheers for the Bush Doctrine –-History has begun to speak, and it says that America made the right decision to invade Iraq«, Time, 7.3.2005.
2 Liberale Kommentatoren stehen ihnen kaum nach. »Bis zu den jüngsten Wahlen im Irak und unter den Palästinensern, war die moderne arabische Welt weitgehend immun gegen die Winde der Demokratie die überall sonst in der Welt geblasen haben« schrieb z.B. auch Thomas L. Friedman in der New York Times v. 7.4.2005 (»Arabs Lift Their Voices«)
3 Dilip Hiro, »Iraq’s New President Jalal Talabani: Ally of CIA, Iranian Intelligence and Saddam Hussein«, Democracy now, 7.4.2005.
4 Pepe Escobar, »What’s behind the new Iraq« und »The shadow Iraqi government« , Asia Times, 8.4.2005 bzw. 21.4.2005
5 Squabble over Iraqi militias, Asia Times, 23.4. 2005.

junge Welt vom 18.5.2005

Die »El-Salvador-Option«

Wahlen, Militäroffensiven und Todesschwadronen im Irak –
Herrschaftsstrategien der USA in dem besetzten Land
(Teil II und Schluß)

Von Joachim Guilliard

* Im gestern erschienenen ersten Teil des Artikels wurde die Einflußnahme der US-Regierung auf den Wahlprozeß im Irak untersucht.


Durch das monatelange Postengeschacher nach den Wahlen im Irak vom 30. Januar bis zu ihrer Vereidigung am 4. Mai 2005 hat auch das Image der neuen Regierung schon stark gelitten. Sich ernsthaft für einen verbindlichen, engen Zeitplan für den Abzug der US-Amerikaner einzusetzen ist ihre einzige Möglichkeit, sich unter den Irakern Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Da sie sich aber ohne deren Schutz nicht halten könnte, wird sie dies aus Eigeninteresse und aus Rücksicht auf die tatsächlichen Machtverhältnisse jedoch nicht tun.

Die Beherrscher des Landes sind weiterhin die USA mit ihren 140000 Soldaten und zahlreichen zivilen und militärischen Einrichtungen in der »Green Zone« Bagdads. Jeder, der den Irak bereist, kann sehen, wie sich die Besatzungsmacht auf Dauer im Land festsetzt. Beispielsweise im Camp »Victory North«, in der Nähe des Flughafens von Bagdad. Hier baut die Halliburton-Tochter Kellog, Brown & Root (KBR) seit über einem Jahr an einer ganzen Stadt, bestehend aus klimatisierten Bungalows, Turnhallen, Burger King, einem riesigen Supermarkt und allem, was sonst noch zum US-amerikanischen Way of Life gehört. Die Stadt beherbergt bereits 14000 Soldaten; fertiggestellt wird das Camp doppelt so groß sein wie Camp »Bondsteel« im Kosovo, bis dato eine der größten US-Basen in Übersee.

Insgesamt werden in der Region zur Zeit vierzehn Basen ausgebaut, die zusammen über 100000 Soldaten aufnehmen sollen. Diese permanent anwesenden Einheiten sollen längerfristig auch die militärische Basis der von dem renommierten konservativen US-Journalisten Krauthammer erwähnten »panarabischen Reformation« sein, jenem »Versuch, die Kultur des Mittleren Ostens als solche« zu ändern, d. h. die arabischen und islamischen Länder von Nordafrika bis zum Kaspischen Meer in prowestliche, neoliberale kapitalistische Staaten zu verwandeln.

Noch aber sind alle US-Kräfte im Irak gebunden. Von durchschnittlich mehr als 60 Angriffen täglich berichten die US-Kommandeure vor Ort, Teile des Landes sind seit langem der Kontrolle der US-Armee weitgehend entzogen. Weder mit breitgefächerten Großoffensiven noch mit massiven Angriffen auf mutmaßliche Hochburgen ihrer Gegner konnte die US-Armee den Widerstand schwächen. Er wurde im Gegenteil ständig stärker und militärisch effektiver. Der Aufbau einer US-geführten irakischen Armee bleibt zahlenmäßig weit hinter den Erwartungen zurück. Die Einsatzbereitschaft der neuen Polizei- und Armeeeinheiten ist schwach und deren tatsächliche Loyalität ungewiß. So war die erste Maßnahme der US-Truppen während ihrer Militäroffensive »Operation River Blitz« gegen den Widerstand in den Städten am Euphrat z. B., so der Christian Science Monitor, die Gefangennahme der Polizisten der Stadt.


Der verdeckte Krieg

Nach wie vor sind sich die Besatzer über die Stärke und Organisation ihres Gegners weitgehend im unklaren. Nach Schätzungen von General Muhammed Schahwani, dem von Paul Bremer eingesetzten Chef des neuen irakischen Geheimdienstes, stehen ihnen 40000 »Hardcore-Kämpfer« gegenüber, unter-stützt von 150000 Irakerinnen und Irakern, die als »Teilzeitguerillakämpfer«, Kundschafter und logistisches Personal arbeiteten. Diese können, so Schahwani, auch auf Unterstützung oder Duldung durch große Teile der Bevölkerung zählen. Schahwani war bereits unter Saddam Hussein Geheimdienstchef, bevor er das Land verließ und sich Ijad Allawis National Accord anschloß.

Auch die US-Administration hat erkannt, daß ihre Truppen im Irak einem fest in der Bevölkerung verankerten Widerstand gegenüberstehen. Sie setzt daher zunehmend auf einen verdeckten, »schmutzigen« Krieg. Bereits im Dezember 2003 enthüllte der US-Journalist und Pulitzerpreisträger Seymour Hersh entsprechende Programme der US-Regierung, die Geheimdienstexperten an die »Operation Phönix« in Vietnam erinnern. Das Pentagon bezeichnet einem Artikel der US-Zeitschrift Newsweek zufolge die diesbezüglichen Pläne lieber als die »Salvador Option« – in Anknüpfung an die erfolgreichere Anwendung bzw. des Einsatzes von staatlichem Terror, Folter und Todesschwadronen gegen oppositionelle Kräfte in Mittelamerika.1

Wie Hersh herausgefunden hatte, war schon im Herbst 2003 mit Hilfe von israelischen Experten mit der Ausbildung von Spezialeinheiten zur gezielten Liquidierung von Besatzungsgegnern begonnen worden; sie dürften mittlerweile längst im Einsatz sein.2 Hinzu kommt der massive Einsatz von privaten Söldnern, die keiner Kontrolle unterliegen, darunter viele frühere Geheimdienstoffiziere und ehemalige Angehörige von Sondereinheiten der Armee.

Für Peter Maass von der New York Times steht nach seinen Recherchen vor Ort auch fest, daß die Vorlage für den heutigen Irak nicht Vietnam, sondern El Salvador ist, wo ab 1980 eine rechtsgerichtete Diktatur mit US-Unterstützung eine linksgerichtete Befreiungsbewegung bekämpfte. Über 70000 Menschen wurden in dem zwölfjährigen Krieg getötet, die meisten von ihnen Zivilisten.3 Im Irak entsteht aber eher eine Mischung aus beidem, denn Maas übersieht, daß Irak nach wie vor ein militärisch besetztes Land ist, in dem sich 140000 US-Soldaten im direkten Einsatz gegen eine Widerstandsbewegung befinden, welche sich in erster Linie gegen diese Besatzung wendet.

Der verdeckte Krieg soll im wesentlichen von den verbündeten Irakern selbst geführt werden. Ijad Allawi hat hierfür in seiner Amtszeit als Chef der Übergangsregierung u. a. mit Kriegsrecht und dem Aufbau eines neuen »Sicherheitsapparates« die entscheidende Vorarbeit geleistet. Vieles davon verrät die Handschrift von US-Botschafter John Negroponte, der als Botschafter in Honduras auch in Mittelamerika die Fäden zog und eine Reihe von »Beratern« mit einschlägigen Erfahrungen aus dieser Zeit in die Ministerien entsandt hat.


»Special Police Commandos«

Unmittelbar nach seinem Amtsantritt hatte Allawi mit dem Aufbau einer Geheimpolizei begonnen, die als Speerspitze bei der Aufstandsbekämpfung fungieren soll. Als Sicherheitsberater, der den Aufbau des neuen »allgemeinen Sicherheitsdirektorats« (General Security Directorate, GSD) unterstützen sollte, ernannte er den Generalmajor Adnan Thavit al Samarra’i, ein ehemaliger hoher Geheimdienstoffizier Saddam Husseins, der sich an Allawis gescheitertem Putschversuch 1996 beteiligt hatte.

Scheinbar über Nacht traten bald darauf neue paramilitärische Einheiten in Erscheinung, die ebenfalls mit der »Salvador Option« in Verbindung gebracht werden und stark an die rechten Paramilitärs in Kolumbien erinnern. Mittlerweise agieren mindestens sechs dieser vom US-Militär »Pop-Ups« genannten Milizen, verteilt über den gesamten Irak. Die relativ gut bezahlten Kämpfer kommen überwiegend aus den Sicherheitsdiensten und Sondereinheiten der Armee des alten Regimes und haben den Korpsgeist und die Disziplin, die die USA bei den regulären irakischen Militär- und Polizeikräften so sehr vermissen.

Die stärkste dieser schwerbewaffneten Milizen, die »Special Police Commandos«, besteht aus 5000 bis 10000 Kämpfern. Sie waren u. a. im letzten Oktober am Angriff auf Samarra beteiligt, der als Probelauf für den Sturm auf Falludscha galt. Die »Commandos« agieren z. B. aber auch in Mosul, Ramadi und weiteren Zentren des Widerstands. Ihr Kommandeur ist der oben erwähnte Sicherheitsberater Adnan Thavit, einer der engsten Verbündeten Allawis und Onkel des bisherigen Innenministers Falah Al Naqib. Nach eigenen Angaben handelt es sich bei seinen Leuten um Polizeikräfte, die bereits früher »Erfahrungen im Kampf gegen Terrorismus« sammeln konnten sowie um Leute, die unter dem früheren Regime ein spezielles Training erhalten hatten.

Mindestens zwei weitere dieser Milizen, die Muthana-Brigade und die »Defenders of Khadamiya«, stehen in direkter Verbindung zu Allawi. Sie erhalten mittlerweile alle massive Unterstützung vom Pentagon. Die Gesamtstärke dieser neuen irregulären Brigaden, die von den US-Kommandeuren als neue Avantgarde im Kampf gegen den Aufstand betrachtet werden, wird auf über 15000 Mann geschätzt. Da die Loyalität der Milizionäre aber ihren jeweiligen Führern und nicht der Besatzungsmacht gilt, hat sich das Pentagon hier neue Warlords herangezüchtet.

Der Name »Pop-Ups« ist jedoch irreführend. Die Milizen schossen nicht über Nacht aus dem Boden. Erste Pläne zur Schaffung solcher Einheiten wurden bereits Ende 2003 bei Treffen zwischen CIA und Allawi geschmiedet und gehörten somit zum nichtöffentlichen Teil des damals beschlossenen »Übergangskonzeptes«. Allawi hatte den Aufbau solcher »Polizei-Spezialeinheiten« noch vor seinem Amtsantritt angekündigt.

Einheiten der US Marines unterhalten ihre eigenen Milizen, u. a. die »Iraqi Freedom Guard« und die »Freedom Fighters«. Sie setzen sich vorwiegend aus radikalen Schiiten aus dem Süden zusammen und wurden in Operationen der Marines in der Al-Anbar-Provinz, einem der Zentren der Gegenwehr gegen sunnitische Widerstandskämpfer, eingesetzt.


Todesschwadronen

Aufgrund von Äußerungen General Wayne Downings, des nun in Ruhestand gegangenen früheren Chefs aller Sondereinsatzkräfte der USA, ist davon auszugehen, daß im Rahmen dieser neuen Kommandos auch Todesschwadronen agieren. In einem Fernsehinterview hatte Downing den Einsatz solcher paramilitärischen Einheiten in El Salvador als zulässige und nützliche Taktik bezeichnet und ergänzt, daß die USA nun auch »Special Police Commandos« im Irak hätten, die »diese Art von Angriffsoperationen durchführen«. Eine ganze Reihe bekannter Vorfälle stützen diese Aussage.

Belegt ist jedenfalls, mit welcher Brutalität diese Sonderbrigaden gegen Verdächtige vorgehen. Der bereits erwähnte Peter Maass wurde selbst mehrfach Augenzeuge schwerer Mißhandlungen von Verdächtigen durch Thavits »Commandos«, die stets von einer kleineren US-Einheit begleitet werden, und er hörte Berichte von US-Soldaten über brutale Folter in den Gefängnissen.4

Die US-Armee versucht, die Brutalität als Folge irakischer »Tradition« hinzustellen, die sie abzumildern sucht. Dagegen spricht, daß führende »US-Berater« der Milizen über langjährige einschlägige Erfahrungen aus Mittelamerika verfügen. Unmittelbar am Aufbau und Einsatz der neuen Milizen beteiligt ist z. B. James Steele, der in den 80er Jahren in El Salvador als Chef einer Sondereinheit des US-Militärs die dortigen Todesschwadronen der Regierung »beriet«. Eine ähnliche Karriere hat Steve Casteel, »Berater« im irakischen »Innenministerium«, der sich den größten Teil seines bisherigen Berufslebens im schmutzigen Drogen- und Antiguerillakrieg in Peru, Bolivien und Kolumbien engagierte.

»Indem die Medien die Wahlen als Triumph der Bush-Administration darstellten«, so US-Ökonom und Medienkritiker Edward S. Herman, »und damit, wie in den früheren vietnamesischen und salvadorianischen Wahlen, teilweise als Rechtfertigung für Aggression und Besatzung (aggression-occupation), geben sie der Regierung freiere Hand.« Sie werde »zuerst ihr Programm der Befriedung durch Gewalt intensivieren, um den Aufstand zu marginalisieren und den Boden für die Herrschaft der Gruppen zu bereiten, die den Invasoren/Besatzern zutiefst verpflichtet sind«, so Herman weiter. Wie Seymour Hersh in »We’ve Been Taken Over By a Cult«5 aufgezeigt habe, »hat die Regierung ihre Bombenangriffe Monat für Monat stetig eskaliert und so den ganzen Irak in eine ›Feuer-frei-Zone‹ verwandelt – ... ›Triff alles, töte jeden‹ – nahezu unberichtet in den Medien, und wir können sicherlich noch mehr dieser Art erwarten.«6


1 »›The Salvador Option‹ – The Pentagon may put Special-Forces-led assas-sination or kidnapping teams in Iraq«, Newsweek, 8.1.2005
2 siehe J. Guilliard, »Irak: Wirtschaftlicher Ausverkauf und neokoloniale Dikta-tur«, Marxistische Blätter 1/2004
3 Peter Maass, »The Way of the Commandos«, New York Times, 1.5.2005
4 Peter Maass, a.a.O.
5 Seymour Hersh, »We’ve Been Taken Over By a Cult«, CounterPunch, 27.1. 2005
6 Edward S. Herman, »The Election In Iraq: The US Propaganda System Is Still Working In High Gear«, Znet, 13.2.2005

* weiterführende Literatur:

- J. Guilliard »Im Treibsand Iraks«, IMI-Studie 2004/03
- Phyllis Bennis, »Reading the Elections«, Institute for Policy Studies, 2. 2.2005.

junge Welt vom 19.5.2005
logo

Friedensladen Heidelberg

SEITE DURCHSUCHEN

 

AKTUELLE BEITRÄGE

STATUS

Online seit 7357 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 18. Okt, 16:39

USER STATUS

Willkommen ...

.....................................