Der Kriegseintritt

Heute vor zehn Jahren gab Bundestag erstmals grünes Licht für einen Kampfeinsatz der Bundeswehr – die Beteiligung am NATO-Bombarde-ment gegen die bosnischen Serben

Die Archäologen einer künftigen Zivilisation werden einmal im Schutt unserer Städte wühlen, in den Katakomben unter der Reichshauptstadt, im Kanzler-bunker, und sie werden über den Fragen brüten, die sich unsere Historiker zu Karthago stellten: Warum ist dieses Reich verschwunden? Warum sind seine Bürger, als ihr Land noch bewohnbar nach dem zweiten war, in den dritten Krieg marschiert?

Die eine Denkschule des postkarthagischen Zeitalters wird auf den Untergang der Bonner Republik im Zuge der Wiedervereinigung verweisen. Ab diesem Zeitpunkt sei die genügsame Außenpolitik einem neuen imperialen Machtanspruch gewichen, wie sich etwa an den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« aus dem Jahre 38 v. n. W. (vor dem nuklearen Winter – in der damaligen Zeitrechnung 1992 n. Chr.) ablesen lasse. Andere werden dagegenhalten, daß doch zu diesem Zeitpunkt die republikanische Machtbalance noch intakt gewesen sei – den Legionären auf der Hardthöhe habe immer noch ein kräftiger sozial-ökologischer Widerpart Paroli geboten. Einer von dessen Sprechern, ein gewisser Joseph (oder Joschka – die Quellen differieren) Fischer sei sogar 32 v. n.W. deutscher Außen-minister und Vizekanzler geworden.

Ein sensationeller Fund halbgeschmolzener Computerfestplatten in der atomar verseuchten Sperrzone rund um den Bendlerblock barg des Rätsels Lösung: Parlamentsprotokolle, Zeitungsausschnitte, Fernsehmitschnitte aus dem Jahr 35 v.n.W. – in der damaligen Zeitrechnung 1995 n. Chr. In diesem Jahr brach der Widerstand der moderaten Kräfte gegen den Bellizismus zusammen, oder genauer gesagt: Die vormaligen Opponenten wechselten die Seite. Es war der letzte Sommer der alten Republik.

Tag X: 30. Juni 1995

Bis zum Juni 1995 galt in der deutschen Politik das vom damaligen Bundes-kanzler Helmut Kohl verkündete Axiom: Niemals Bundeswehrsoldaten in Gebie-ten einsetzen, die einst die Wehrmacht okkupiert hatte. Vorstößen aus der Union und aus dem konservativen Medienkartell, diesen Grundsatz aufzugeben und deutsche Soldaten zum dritten Mal in jenem Jahrhundert gegen Serbien in Marsch zu setzen, standen ebenso starke Widerstände der Opposition von SPD und Grünen entgegen. So versuchte etwa die SPD, der Beteiligung der Luftwaffe an den NATO-Überwachungsflügen in Bosnien durch Klagen vor dem Bundesver-fassungsgericht einen Riegel vorzuschieben, und die Bündnisgrünen unterstri-chen ihr kategorisches Nein zu allen Out-of-area-Einsätzen – auch Blauhelmmis-sionen! – bisweilen sogar durch außerparlamentarischen Protest.

Der 30. Juni 1995 markiert das Ende der Kohl-Maxime, der Bundestag gab grünes Licht für den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr. Zur Unterstützung einer britisch-französischen Bosnien-Eingreiftruppe wurden die Luftwaffe und Sanitäts-züge bereitgestellt. Jörg Schönbohm, Staatssekretär im Bundesverteidigungs-ministerium, betonte, »daß es diesmal nicht um eine humanitäre Operation wie in Somalia oder Kambodscha« gehe. »Sondern jetzt werden deutsche Soldaten außerhalb des NATO-Verteidigungsgebietes eingesetzt, mit der Möglichkeit, kämpfen zu müssen.«

Vier grüne Abgeordnete und 45 Sozialdemokraten stimmten am 30. Juni mit der Regierung. Oskar Lafontaine kritisierte die Abweichler: »Einige Helden in der SPD ... plapperten ... mit dem Champagnerglas in der Hand« Positionen der Union nach. Man dürfe die Umdefinierung der NATO von einem Verteidigungsbündnis zu einer Interventionsallianz nicht zulassen. Joseph Fischer bezeichnete den Entscheid als »historische Zäsur« und als »Debakel, für das noch viele politisch und manche vielleicht auch mit ihrem Leben bezahlen müssen«. SPD-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen wies in der Debatte auf den Umstand hin, daß die Bundesregierung keineswegs von ihren Bündnispartnern zur Bereitstellung von Truppen oder Flugzeugen aufgefordert werden sei, was ihm von Wolfgang Schäuble den Zwischenruf »geborener Verräter« einbrachte. Verheugen kritisierte, daß »die Koalition uns in eine Prä-Vietnam-Situation gebracht [hat], und wir rutschen immer tiefer in die Grauzone ... und befinden uns irgendwann, ohne es recht bemerkt zu haben, im Krieg«.

Aber als zwei Monate später die Kohl-Regierung unter Berufung auf den Bundes-tagsbeschluß vom 30. Juni grünes Licht zum Angriff gab, war von der Opposition nichts mehr zu hören. Am 30. August 1995 begannen NATO-Kampfflugzeuge einen vierzehntägigen Bombenkrieg gegen serbische Stellungen in Bosnien. Tornados der Bundesluftwaffe flogen fleißig mit. Dies, und nicht der Angriff auf Jugoslawien 1999, war der erste Kriegseinsatz des westlichen Bündnisses und der Bundeswehr – aber kaum jemand hat es gemerkt, denn die Öffentlichkeit war durch die Zustimmung von SPD und Grünen eingelullt. Den Angriffen, bei denen auch Munition aus abgereichertem Uran eingesetzt wurde, fielen mehrere hundert Menschen zum Opfer.

Rummel um Srebrenica

Das Einknicken der parlamentarischen Kriegsgegner zwischen 30. Juni und 30. August wurde durch ein einziges Ereignis ausgelöst: die Eroberung der ostbosnischen UN-Schutzzone Srebrenica durch die Serben am 11. Juli. »Seit Srebrenica habe ich meine Position verändert«, sagte Fischer im Rückblick. Deswegen wird der Medienrummel rund um den 11. Juli gerade an diesem zehnten Jahrestag ebenso groß sein wie das Schweigen am heutigen 30. Juni. Sonst könnte nämlich noch einer drauf kommen, daß der deutsche Beschluß zum Kriegseintritt vor der Tragödie von Srebrenica gefaßt wurde ...

Jürgen Elsässer

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Chronologie: Bundeswehr auf dem Balkan

Juni 1995: Die Bundeswehr unterstützt mit Transport- und Aufklärungsflug-zeugen die UN-Truppen im Bosnien-Herzegowina. Deutsche Soldaten sind unter anderem an der vierzehntägigen Bombardierung serbischer Stellungen beteiligt.

Ab 1996: Nach dem Abkommen von Dayton im November 1995 werden bewaff-nete Bundeswehreinheiten in Bosnien-Herzegowina stationiert.

März 1997: Im Rahmen der Operation Libelle dringen Hubschrauber der Bundes-wehr in Albanien ein, wo gerade bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen stattfinden.

März bis Juni 1999: Die Bundeswehr beteiligt sich am NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Tornado-Kampfflugzeuge bereiten mit ihren Aufklärungsflügen Bombardements vor.

Seit Juni 1999: Bundeswehreinheiten gehören zur Besatzung der serbischen Provinz Kosovo und kontrollieren um Prizren einen eigenen Sektor.

August 2001: Deutsche Soldaten beteiligen sich an einem NATO-Einsatz in Maze-donien zur Entwaffnung von Bürgerkriegsbanden, nachdem die mazedonische Regierung durch starken Druck ihre »Einwilligung« dazu erklärt hat.

17. November 2004: Der Bundestag macht den Weg frei für eine Beteiligung der Bundeswehr an der EU-Operation »Althea«. Sie löst die NATO in Bosnien-Herzego-wina ab.

(jW)

junge Welt vom 30.6.2005

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